Die überlieferte Legende von van Goghs Selbstverstümmelung ist ein zweifelhafter Mythos ohne echten Beweis. Die Ereignisse in der Nacht vom 23./24. Dezember 1888 in Arles sind nicht so abgelaufen, wie von Gauguin berichtet und seither in der Literatur immer wiederholt wurde. Nicht Vincent van Gogh hat sich selbst ein Ohr mit dem Rasiermesser abgeschnitten, sondern es war sein Kollege und Mitbewohner Paul Gauguin, ein herrischer und rücksichtsloser Charakter und versierter Fechter, der van Goghs linkes Ohr im Streit nahe dem Arleser Bordell mit seiner Fechtwaffe abschlug, sei es zufällig oder mit Absicht. Um der Strafverfolgung zu entgehen, erfand und verbreitete Gauguin anschließend die Legende von van Goghs Selbstverstümmelung und von dessen „Wahnsinn“.
Welche Forschungsmethoden haben Sie angewandt?
Unsere These beruht auf einer gründlichen und kritischen Analyse aller verfügbaren Dokumente, Fakten, Kunstwerke sowie des Verhaltens der beteiligten Personen. Auch von Sachlogik, gesundem Menschenverstand und kriminalistischen Methoden ließen wir uns leiten. Wir gingen „zurück zu den Wurzeln“, an die Originalquellen. Zunächst unterwarfen wir alle verfügbaren relevanten Textquellen (Briefe, Tagebücher, Dokumente, Notizen usw.) der wissenschaftlichen „historischen Quellenkritik“, u.z. im Originaltext (meist Französisch, manchmal Niederländisch), da wir in Übersetzungen öfter Fehler und Unklarheiten fanden.
Wir befragten jedes einzelne Beweisstück. Wir analysiertren auch Bilddokumente (Gemälde, Zeichnungen und Skizzen) beider Künstler mit ikonologischen Methoden. Außerdem analysierten wir den persönlichen Werdegang, den Charakter, die Psychologie und das Verhalten der beiden Künstler. Und wir nutzten Methoden der Kriminalistik, wie z.B. die Rekonstruktion der örtlichen Gegebenheiten und der zeitlichen Abfolge der Ereignisse um die Ohr-Affäre, und sogar forensische Hinweise, z.B. van Goghs Mitteilung, dass die „Arterie (des Ohrs) durchtrennt“ war.
Schließlich unterwarfen wir unsere Erkenntnisse einer Plausibilitätsprüfung. Eine wissenschaftliche These ist keine Sache von Meinung, Vermutung oder Glauben, sondern eine Sache von Fakten, kritischer Rationalität und methodischem Vorgehen in Verbindung mit gesundem Menschenverstand.
Folgende Kriterien sind für eine wissenschaftliche Analyse maßgebend:
- Ist sie umfassend, in sich logisch und plausibel?
- Enthält sie alle relevanten Informationen?
- Beruht sie auf einem kritischen Umgang mit den Quellen?
- Berücksichtigt sie auch mögliche Einwände oder andere Erklärungsmöglichkeiten?
Wir haben uns stets bemüht, diesen Standards zu entsprechen.
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Was veranlasste Sie, einen „kalten Fall“ wieder zu öffnen und Ihre Forschung über die Beziehung zwischen van Gogh und Gauguin in Arles aufzunehmen?
Das war mehr ein Zufall: 1996, bei einem Besuch in der Eremitage in St. Petersburg, standen wir plötzlich vor Gauguins Gemälde „Sonnenblumen auf einem Stuhl“ von 1901. Dieses Bild machte uns neugierig.
Gauguin, Sunflowers on an armchair, 1901 [W 603], link to source
Mit dem Bildmotiv (Sonnenblumen!) spielte Gauguin offensichtlich auf seinen verstorbenen Kollegen Vincent van Gogh an. Und das symbolistische „Auge“ in der seltsamen Sonnenblume im Hintergrund erinnerte uns an Victor Hugos Gedicht „La Conscience“ (aus „La Légende des Siècles“, 1859), worin das Auge Gottes den Brudermörder Kain sein ganzes weiteres Leben lang verfolgt.
Gauguins seltsames Bild motivierte uns, mehr über die Beziehung, die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zwischen Vincent van Gogh und Paul Gauguin 1888 in Arles herauszufinden, die so plötzlich mit der berühmten „Ohrgeschichte“ endete. Anfangs hatten wir keine Vorstellung vom Ergebnis unserer Suche, und im Nachhinein erscheint es recht naiv, dass wir begannen, alle die alten Dokumente und die Unmenge an Publikationen zu dem Fall erneut zu prüfen. Ein starker Anreiz war auch unser historisches Interresse, die Ursprünge und die Quellenbasis der „Selbstverstümmelungs-Legende“ zu ermitteln. Daher begannen wir ein Forschungsprojekt, das uns mehr als zehn Jahre beschäftigte (allerdings mit vielen Unterbrechungen).
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