VI. Warum propagierte Gauguin van Goghs „Wahnsinn“?

 

Sich selbst ein Ohr abzuschneiden ist wohl als ein Akt des Wahnsinns anzusehen. Daher haben alle, die glauben, van Gogh habe dergleichen getan, gefolgert, er müsse irre gewesen sein.
Um Vincents „Selbstverstümmelung“ plausibel zu machen, hat Gauguin von Anfang an eifrig das Gerücht verbreitet, van Gogh sei „verrückt“ geworden. Gauguin hat darüber sein ganzes Leben lang weiter berichtet und geschrieben. Gleich nach seiner Rückkehr nach Paris gab er Emile Bernard eine so eindrucksvolle Darstellung von van Goghs „Wahnsinn“, dass Bernard völlig bestürzt war und an Albert Aurier schrieb, er werde fast selbst verrückt nach all dem, was Gauguin ihm über den Freund berichtet hatte. Er konnte es kaum fassen, doch Vincents Wahnsinn schien die einzig plausible Erklärung für seine Tat zu sein.
Es war Gauguin gelungen, Bernard glauben zu machen, Vincent habe sich in extremem religiösen Wahn schließlich für den heiligen Geist, Christus oder gar Gott gehalten.

Allerdings ist von solchen Wahnvorstellungen in van Goghs Krankenakten oder in den Berichten der behandelnden Ärzte nirgends die Rede. Doch Gauguin hat wohl schon der Polizei in Arles Ähnliches erzählt, um jeden Verdacht von sich abzulenken und um zu erklären, warum er eine Begegnung mit seinem Kollegen unbedingt vermeiden und sofort aus Arles verschwinden wollte: sein Anblick könnte für diesen Irren „funeste“ sein. Gauguin hatte den Vorteil, dass van Gogh einen Zusammenbruch erlitten hatte und für mehr als eine Woche nach dem Vorfall dem Tode nahe und unfähig war, sich klar auszudrücken. Da er gewohnt war, regelmäßig Alkohol zu trinken, könnte sein auffälliges Verhalten während seines ersten Krankenhausaufenthalts unter anderem auch mit starken Entzugserscheinungen erklärt werden.

Doch für Gauguin war es entscheidend, van Goghs „Wahnsinn“ zu betonen. Noch nach dessen Tod, als Bernard, Sérusier und andere Freunde im September 1890 in Paris eine Gedenkausstellung für van Gogh organisieren wollten, versuchte Gauguin dies zu verhindern und argumentierte, es sei jetzt nicht ratsam, die Leute wieder an Vincent und „sa folie“ zu erinnern. Er kam auch in seinem Artikel „Essais d’Art libre“ (Januar 1894) und in „Diverses Choses“ (1896/97) auf Vincents Wahnsinn zurück. Noch kurz vor seinem Tod, in seinen Memoiren „Avant et Après“ (1903), zählte Gauguin Vincent van Gogh zu den Menschen, die nach der Begegnung mit ihm verrückt geworden seien. Er illustrierte dies u.a. mit der zweifelhaften Behauptung, Vincent habe mit Kreide an die Wand ihres Ateliers in Arles geschrieben: "Je suis Saint-Esprit – Je suis sain d'Esprit", sowie der anschließenden ausführlichen Darstellung von Vincents Wahnsinnstat der Selbstverstümmelung.
(I am the Holy Spirit – I am of sound mind); (Gauguin, Intimate Journals, p. 11-21).

Es ist aber bemerkenswert, dass Gauguin, der allen und überall von Vincents Wahnsinn erzählte, gegenüber dessen Bruder Theo offensichtlich genau das Gegenteil sagte. Dankbar schrieb Theo seiner Verlobten Johanna Bonger, dass, während die Verwandten (außer der Schwester Wil) in ihren Briefen bei allen Bekundungen ihres Mitgefühls kaum verbargen, sie hätten Vincent schon immer für irre gehalten, in seinem (Theos) Umfeld Degas, Gauguin und André [Bonger] die Einzigen seien, die diese Ansicht nicht teilten.16
Dies wirft ein vielsagendes Licht auf Gauguins anpassungsfähige Taktik und auf seine „Ehrlichkeit“.

An welcher Krankheit Vincent eigentlich litt, bleibt umstritten.17
Eine Fachkonferenz von 35 internationalen Experten, Psychiatern, Medizinern und Kunsthistorikern beim Van-Gogh-Museum in Amsterdam kam im September 2016 zu dem Ergebnis, „dass Vincent letztlich nicht geisteskrank war“.
Bekannt ist, dass er an einer Krankheit litt, welche sich nach Dezember 1888 in kürzeren Abständen in wiederholten Anfällen äußerte, die durch körperliche und psychische Ausfälle gekennzeichnet waren. Zwischen Dezember 1888 und April 1890 sind sechs solche Anfälle dokumentiert, die zwischen sieben und 69 (!) Tagen andauerten. Diese Schübe traten unvermittelt auf und endeten ebenso plötzlich.
Dazwischen handelte und verhielt sich van Gogh vollkommen normal und zeigte auch keine Symptome eines geistigen Verfalls. Die behandelnden Ärzte diagnostizierten damals eine besondere Art von Epilepsie. Jedenfalls ist es angesichts seiner Klarsicht in den Phasen zwischen den Anfällen, angesichts der gedanklichen und sprachlichen Klarheit seiner Briefe, angesichts seiner großen künstlerischen Kreativität bis in die letzten Tagen seines Lebens unbegründet zu behaupten, van Gogh sei geisteskrank gewesen.
Dennoch bleibt sein „Wahnsinn“ der zentrale Teil des populären Mythos von diesem genialen unglücklichen Künstler, der sich in einem Anfall von Wahnsinn sein Ohr abgeschnitten habe.

Und es war Paul Gauguin, der die Grundlagen dieses Mythos gelegt hat.

  

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16. Theo Van Gogh to Jo Bonger, 1 January 1889, Brief Happiness, p. 77.

17. see the symposion at the Van Gogh Museum in Amsterdam, September 2016, in connection with the exhibition "On the Verge of Insanity – Van Gogh and his Illness". 35 international experts, psychiatrists, other medical professionals and art historians had ruled out a number of possible mental illnesses, though the underlying cause of Van Gogh`s illness remains unknown. Synopsis by Judith Schlesinger: "After two days of intense small groups debates and discussions we determined that Vincent did not have a mental illness after all", see Creativity Post, Oct.03, 2016