XIV. Welche Folgen hatte Gauguins Taktik für van Gogh?

 

Mit seiner Schutzbehauptung, van Gogh habe sich selbst verletzt, hatte Gauguin das Gerücht von Vincents “Wahnsinn” in die Welt gesetzt, dass sich rasend schnell verbreitete. Dies hatte ernste Folgen für van Gogh, abgesehen von seinen seelischen und körperlichen Wunden: Nach einer Petition seiner Nachbarn in Arles wurde er, nunmehr als geisteskrank und als potenzielle öffentliche Gefahr betrachtet, im März 1889 für drei Wochen im Hospital interniert, und sein Gelbes Haus wurde offiziell geschlossen. Dies alles bedeutete das abrupte Ende seines optimistischen Ausblicks auf ein gemeinsames Leben mit Gauguin und auf eine zukünftige Künstlergemeinschaft. Es bedeutete das Ende seiner Pläne und Hoffnungen auf ein „Atelier des Südens“, auf das er so lange und mit solchem Enthusiasmus hingearbeitet und dabei seine ganze Energie und viel von Theos Geld geopfert hatte.

Während er sich über die bigotten Nachbarn beklagte, die seine Internierung im Hospital veranlasst hatten, drückte er in einem irrealen Bedingungssatz deutlich aus, dass er sich nicht selbst das Ohr abgeschnitten hatte:
„Doch jedenfalls, selbst wenn ich mich tatsächlich selbst verletzt hätte, so habe ich dergleichen doch keineswegs diesen Leuten getan“.43
Diese Aussage ist von manchen als Eingeständnis seiner Selbstverletzung gedeutet worden, doch in Wirklichkeit drückt sie genau das Gegenteil aus: „Auch wenn ich mich tatsächlich selbst verletzt hätte“ bedeutet logisch: „Doch tatsächlich habe ich es nicht getan“.

Van Gogh versuchte gemäß seinem Motto, “fröhlich in allem Leiden” zu sein, diesen Schicksalsschlag hinzunehmen. Er war sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass er dank Gauguins Lesart nun als „verrückt“ gebranntmarkt war, und er überlegte, wie er seine neue Rolle so gut wie möglich spielen könnte. Gleichmütig und resigniert schrieb er seinem Bruder:
„Ich gedenke, meinen Beruf als Irrer ebenso einfach anzunehmen wie Degas die Gestalt eines Notars angenommen hat. Doch fühle ich nicht die nötige Kraft für eine solche Rolle“. [J’y songe d’accepter carrément mon metier de fou ainsi que de Gas a pris la forme d’un notaire. Mais voici je ne me sens pas tout à fait la force nécessaire pour un tel rôle.]44 

Diese Sätze beweisen, dass er keineswegs geisteskrank war: Er analysierte seine Lage realistisch und klarsichtig, und er war bereit, die ihm von Gauguin auferlegte Rolle zu übernehmen und so weit er konnte den „Verrückten“ zu spielen. Eine wahre Tragödie.

Von diesem Verrat Gauguins sollte sich van Gogh nie mehr völlig erholen. Er führte zur Verschlimmerung seiner Krankheit in den Jahren 1889-1890, zu seinem freiwilligen Eintritt in die Heilanstalt von St. Rémy im Mai 1889 und zu seiner latenten Depression, die ihn bis zu seinem Tod im Juli 1890 begleitete.

  

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43. Vincent to Theo Van Gogh, 19 March 1889; Letters nr. 750; Original: «mais que dans tous les cas, si en effet je m'étais fait une blessure à moi-même, je n'en avais aucunement fait à ces gens-là».

44. Vincent to Theo van Gogh, 24 March 1889, Letters 2009, Nr. 752.