XI. Wenn Gauguin ihm das Ohr abgeschlagen hat, warum hat van Gogh ihn nicht bei der Polizei angezeigt?

 

Dies ist eine sehr wichtige Frage, die uns lange beschäftigt hat. Doch es gibt mehrere Erklärungen für dieses anscheinend merkwürdige Verhalten.

Zunächst einmal: Für mehr als eine Woche, während Gauguin die Geschichte erfand und verbreitete, dieser verrückte holländische Maler habe sich selbst das Ohr abgeschnitten, war van Gogh in einem sehr kritischen Zustand und einige Tage lang sogar dem Tode nahe. Nicht nur war er geschwächt durch „einen sehr schweren Blutverlust, da eine Arterie durchtrennt war“24, sondern er litt auch unter dem ersten Anfall seiner merkwürdigen Krankheit. Während dieser entscheidenden Tage war er unfähig, klar zu denken oder sich auszudrücken. Und später, als er begriff, was Gauguin der Polizei und Dr. Rey erzählt hatte, nämlich dass er sich das linke Ohr mit einem Rasiermesser selbst abgeschnitten habe, wusste er sehr wohl, dass dies nicht stimmte, wollte aber nicht öffentlich widersprechen. Er machte Ausflüchte und behauptete, er könne sich an das Geschehene nicht mehr genau erinnern.

Um dies zu verstehen, müssen wir van Goghs Charakter und auch seine besonderen Gefühle für Gauguin betrachten. Van Gogh bewunderte Gauguin. Er hatte alles getan, um ihn zu veranlassen, zu ihm nach Arles zu kommen und mit ihm zu leben, er hatte sich monatelang nach ihm gesehnt, er hoffte, unter seiner Leitung ein „Atelier des Südens“ zu gründen, er hatte viel von Theos Geld dafür ausgegeben, um dessen Schlafzimmer einzurichten und zu dekorieren. In gewisser Weise war er in ihn verliebt. Und grundsätzlich hatte er einen hohen Begriff von Freundschaft: Es wäre ihm unmöglich gewesen, einen Freund und Kollegen anzuzeigen und ihn womöglich ins Gefängnis zu bringen. Er würde schweigen. Daher versuchte er, Gauguin schon in seinem ersten Brief nach dem Vorfall zu beruhigen: „Beruhigen Sie ihn [Theo] wenigstens jetzt völlig„ und, ich bitte Sie, vertrauen Sie selbst darauf, dass in dieser besten aller Welten, wo immer alles aufs Beste hinausläuft, letztlich kein Übel besteht“ („Maintenant au moins rassurez le tout à fait et vous-même je vous en prie. ayez confiance qu’en somme aucun mal n’existe dans ce meilleur des mondes où tout marche toujours pour le mieux“).25
Durch dieses „vous-même je vous en prie. ayez confiance“ versicherte er Gauguin, dass er ihn nicht anzeigen werde und dass er nichts von ihm zu befürchten habe.

Zweitens, und noch bedeutsamer, hoffte van Gogh zu jener Zeit noch, dass sie beide ungeachtet dessen, was geschehen war, ihr gemeinsames Leben in Arles noch würden fortsetzen können. Er schrieb seinem Bruder: „Glücklicherweise ist sicher, so wage ich zu glauben, dass Gauguin und ich uns als Naturen genug zugetan sind (nous nous aimons), um im Notfall gemeinsam wieder neu beginnen zu können.“ 26

Ebenso an Gauguin: „Wie es auch sei, ich hoffe, wir sind einander genug zugetan („nous nous aimons assez“), um bei Bedarf von Neuem beginnen zu können, wenn die Geldnot, die für uns Künstler ohne Kapital, ach, allgegenwärtig ist, einen solchen Schritt nötig machen sollte.“27

Dies war ein weiterer Grund dafür, dass er Gauguin nicht anzeigen konnte oder wollte: Er hoffte trotz allem noch auf eine Fortsetzung ihres gemeinsamen Lebens im Gelben Haus!

Drittens war van Gogh irgendwie schuldbewusst. Er sah sich mitschuldig an der Eskalation des Dramas. Offenbar glaubte er, dass er durch sein eigenes Verhalten den ungestümen Freund veranlasst hatte, aggressiv zu werden, indem er ihn allzu sehr bedrängte: „Mich plagt auch das Gewissen, wenn ich an die Schwierigkeiten denke, die ich, wenn auch unbeabsichtigt, für Gauguin verursacht habe. Doch vor den letzten Tagen sah ich nur, dass er mit geteiltem Herzen arbeitete zwischen seinem Wunsch, nach Paris zu gehen, um seine Pläne umzusetzen, oder in Arles zu leben“.28

Und schließlich viertens, der „Pakt des Schweigens“:
Wie Gauguin Emile Bernard berichtete, hatte van Gogh ihm vorgeschlagen: „Sie sind verschwiegen, doch ich werde es auch sein“. („Vous êtes taciturne, mais moi je le serai aussi“). [s. oben, Frage 2] 29

Offensichtlich wollte er die ganze Sache zwischen Gauguin und ihm selbst geheim halten. (siehe Frage XII).

Viele Jahre später versichert Gauguin in einem Brief an den Kritiker André Fontainas: „Zu van Goghs edlem Charakter kann ich, der ich der Künstler mit versiegelten Lippen bin, mich nur beglückwünschen“. 30

Damit bestätigte auch Gauguin die Existenz eines „Pakts des Schweigens“ zwischen den beiden. Er hatte allen Grund, über den wahren Hergang zu schweigen und van Gogh dafür dankbar zu sein, dass er sein Versprechen gehalten hatte, Gauguins Rolle in der Ohr-Affäre nicht zu offenbaren. Doch zur Sicherheit legte er eine falsche Spur, indem er van Goghs „Wahnsinn“ als Grund für die angebliche Selbstverletzung betonte. Und weil beide Beteiligte nie offenlegten, was wirklich geschehen war, ist es für die Kunsthistoriker bisher so schwierig gewesen, die Wahrheit zu erkennen.

 

 

<< vorherige nächste frage>>  

 


24. Vincent to Theo van Gogh, 7 Jan. 1889, Letters 2009, No. 732.

25. Vincent to Paul Gauguin, included in Vincent to Theo van Gogh, 4 Jan. 1889; Letters 2009, No. 730.

26. Vincent to Theo Van Gogh, 19 Jan. 1889, Letters 2009, Nr. 738.

27. Vincent Van Gogh to Paul Gauguin, 21 Jan. 1889, Letters 2009, No. 739.

28. Vincent to Theo Van Gogh, 22 Jan. 1889, Letters 2009, Nr. 741.

29. see above, footnote 3 (question II); the phrase was underlined in Bernard's letter to Aurier.

30. Paul Gauguin to André Fontainas, Sep 1902; in: Malingue, Maurice: Lettres de Gauguin, Paris 1946, Nr. 176, p. 306, our translation.