V. Gibt es Hinweise in Gauguins Kunstwerken?
Ja, es gibt zahlreiche bildliche Hinweise auf Gauguins Verwicklung in das Ohr-Drama. Da er ein führendes Mitglied der symbolistischen Bewegung war, ist dies auch nicht sehr überraschend. Abgesehen von seinen Karikaturen des Commissaire Central Joseph d’Ornano (siehe oben) kommt Gauguins Verwicklung auch in mehreren seltsamen Kunstwerken zum Ausdruck, die er in Paris während der ersten Wochen nach seiner Flucht aus Arles geschaffen hat:
Erstens, das Bild „ICTUS“, eine Mischtechnik, die eine androgyne Figur darstellt, die ihr linkes Ohr durch eine Geste ihrer Hand dem Betrachter darbietet [ill. 2]11. Die gestische Präsentation des linken Ohrs in Verbindung mit der Darstellung eines Fisches mit der Aufschrift „ICTUS“ hinter dem Kopf der jungen Person sind deutliche Anspielungen auf den Ohr-Vorfall mit van Gogh: Der Fisch symbolisiert Verschwiegenheit, und in der Fechtersprache bedeutet „Ictus“ einen Hieb, Schlag oder Treffer (siehe unten, sowie Frage 11).
Illustration 2
Zweitens zeigt eine skurrile Tonvase in Form eines Selbstporträts mit dem Daumen am Mund12 einen erschrockenen und verängstigten Gauguin, der schweigen muss [ill. 3].
Illustration 3
Drittens verweist ein Keramik-Henkelkrug in Form eines Selbstporträts mit geschlossenen Augen, abgetrennten Ohren und am Gesicht herunterlaufender blutroter Glasur [ill. 4]13 direkt auf die kürzlichen Ereignisse um van Goghs Ohr: In psychologischer Umkehrung versetzt sich Gauguin hier an die Stelle van Goghs und vertauscht somit Täter und Opfer.
Illustration 4
Diese und andere Arbeiten Gauguins nach 1889, einschließlich seiner vier Sonnenblumenbilder mit dem „Auge“, die er 1901 auf Tahiti gemalt hat [ill. 5]14, werden im Lichte seiner Verwicklung in das Ohr-Drama neu zu interpretieren sein.
In einem Brief aus Papetée/Tahiti vom Oktober 1898, genau10 Jahre nach seiner Ankunft in Arles vor 10 Jahren, bittet Paul Gauguin Daniel de Monfreid, ihm "ein paar Blumenknollen und Blumensamen" zu schicken, besonders Dahlien und Sonnenblumen.a)
Montfreid erfüllte offensichtlich diesen Wunsch, denn schon 1899 bestätigte Gauguin, dass die meisten Samen aufgegangen und dass er einige Studien davon anfertigen würde, wenn die Blumen voll erblüht seien.b)
Heute sind uns u.a. 4 Versionen von Sonnenblumenbildern bekannt, die Gauguin 1901 in der Südsee malte. Er schuf sie in Erinnerung an Vincent van Gogh, den Meister der Sonnenblume, der selbst einmal gesagt hatte:" Weisst Du, für Jeannin gilt die Pfingstrose, für Quost die Malve, aber für mich die Sonnenblume."c)
Gauguins vier Stilleben mit Sonnenblumen weisen daher ziemlich eindeutig auf van Gogh`s Sonnenblumenbilder hin, allerdings ist Gauguins Metaphern - Sprache eine andere. Seine versteckten Hinweise gehen über eine oberflächliche Vergleichbarkeit mit den Blumenstilleben von van Gogh weit hinaus. Besonders deutlich wird dies in seinem Bild "Sonnenblumen auf einem Sessel".d)
Gauguin arrangiert hier auf ziemlich sorglose Art Sonnenblumen in einem auf einem Sessel stehenden Korb. Einige der Blumen lassen schon ihre Köpfe hängen. Ein weiss-blaues Tuch erinnert an ein Leichentuch und ist über die Rückenlehne des Sessels geworfen, der mit Gauguins Armlehnstuhl in Arles auffallende Ähnlichkeit besitzt.
Hinter dem Sessel erhebt sich, mysteriös und geisterhaft, eine morbide, dunkelbraune, bedrohlich aufgerichtete Sonnenblume mit einem starrenden, toten Auge im Zentrum des Blütenkorbes. Auf der rechten Leinwand ist hinter einem Mauerabschnitt das Porträt einer tahitianischen Frau zu erkennen.
Das starrende tote Auge ist zweifellos das dominierende Element auf diesem Bild. Dieses Auge beweist anschaulich, dass sich Gauguin nicht nur des jedem Stilleben innewohnenden Vanitasgedankens bewusst ist, sondern dass er darüber hinaus ganz bewusst Stilelemente des Symbolismus angewandt hat.
Während seines Pariser Aufenthaltes 1891 war Gauguin von führenden Vertretern des literarischen Symbolismus begeistert gefeiert worden. Den erste Kontakt zu ihnen hatte Odilon Redon geschaffen, der ein Porträt Gauguins anfertigte. Odilon Redon war es ebenfalls, der als erster das " alles sehende Auge" als verrätselndes Element in seinen Kompositionen, vor allem in seinen Grafiken, anwandte.
Gauguin greift bei seiner Arbeit "Sonnenblumen auf einem Sessel" in Erinnerung an van Gogh das literarische Motif des alles sehenden (göttlichen) Auges als Symbol des menschlichen Gewissens auf.e)
Einer der Lieblingsautoren Gauguins ist nachweisbar Victor Hugo.f)
In seiner Sammlung" La Légende des Siècles" von 1859 veröffentlichte er ein Gedicht, das bis heute fester Bestandteil des Unterrichts an französischen Schulen ist: "La Conscience", das Gewissen. Es erzählt die Geschichte der biblischen Figur Kains und seinem vergeblichen Versuch, nach seinem Mord an seinem Bruder Abel dem Auge Gottes zu entkommen. Kains Anstrengungen sind vergeblich: als Projektion seines schlechten Gewissens folgt ihm das Auge überall hin. Selbst als sich die Gruft über ihm schliesst, ist das Auge schon da und schaut ihn an.g)
Durch sein Bild "Sonnenblumen auf einem Sessel" weist Paul Gauguin auf die Ereignisse in Arles und seine eigene schmähliche Rolle, die er dabei spielt, hin. Sie verursacht bei ihm ganz offensichtlich noch nach 10 Jahren Gewissensbisse.
Illustration 5, link to source
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Ictus
Ein weiterer Hinweis ist die wiederholte Erwähnung des Wortes „Ictus“ in Gauguins Skizzen und im bereits oben erwähnten Bild [ill.2]. „Ictus“ hat verschiedene Bedeutungen. Das griechische Anakrostichon ICTUS ist die Abkürzung für „Jesus Christus, Gottes Sohn, Erlöser“, und das griechische Wort „ichthys“ bedeutet „Fisch“. Die frühen Christen im alten Rom verwendeten den Umriss eines Fisches als Erkennungszeichen, als geheimes Symbol ihrer Gemeinschaft und als Warnung, „stumm wie ein Fisch“ zu bleiben.
„Ictus“ hat auch eine medizinische Bedeutung und bezeichnet einen plötzlichen Krankheitsausbruch, z.B. einen Schlaganfall, einen Infarkt oder einen epileptischen Anfall. Und schließlich bedeutet das lateinische Wort „ictus“ „Hieb“, „Stoß“, „Schlag“, „Wurf“ und wurde in Fechterkreisen auch gebraucht, um einen Treffer anzuzeigen.
Am Ende eines Briefes von van Gogh vom 21. Januar 1889 fügte Gauguin den Umriss eines Fisches mit der Inschrift „ICTUS“ hinzu, u.z. an der Stelle, wo Vincent schrieb „bevor ich krank wurde“(„avant de tomber malade“).15 Damit verwies Gauguin auf ein Geheimnis, das hinter dieser „Krankheit“ steckte.
Auf Seite 220 seines Skizzenbuches aus Arles notierte Gauguin einige Stichwörter, die sich auf seine Gespräche mit Vincent bezogen, unter anderem „Saul, Paul, Ictus“, wohl in Zusammenhang mit den religiösen Diskussionen zwischen den beiden.
Doch auf Seite 221 des Skizzenbuchs finden wir sehr auffällig das Wort „ictus“, umrahmt nicht von einem Fisch, sondern von einem Oval, das wie der Umriss einer abgeschnittenen menschlichen Ohrmuschel aussieht [ill. 6].
Illustration 6, Gauguin, sketchbook, p. 221
Dies ist ein eindeutiger Hinweis auf das Ohr-Drama und auf den „Hieb“ (ictus), der van Goghs Ohr abtrennte. Mehr noch: Oberhalb dieser Skizze finden sich einige Kritzeleien, eine verschlungene „8“ und zwei Zickzacks, die jeweils rechts mit einem Abwärts-Strich enden. Diese Kritzeleien oberhalb des Ohrs mit der Inschrift „ictus“ sind nicht zufällig oder ohne Bedeutung, da sich nirgendwo im Skizzenbuch Ähnliches finden lässt. Vielmehr sind sie zu deuten als Darstellung spezieller Fechtbewegungen: Gauguin rekonstruiert hier in Gedanken die Fechtbewegungen, mit denen er Vincents Ohr abgetrennt hatte („ictus“!).
11. Paul Gauguin, "Ictus" (1889); Watercolour and oil on paper; Collection Daniel Malingue: see Merlhès 1989, p.195; Druick/ Zegers 2001, p.279; Kaufmann/Wildegans 2008, p. 326-327. ↩
12. Paul Gauguin,, Glazed ceramic mug in form of a self-portrait, spring 1889 [B 53, G 66], Musée d'Orsay; see also Gösta Svenaeus: "Gauguin and van Gogh", in "Vincent" – Bulletin of the Rijksmuseum Vincent van Gogh, Vol 4 (1976), p. 22.; and: Druick/ Zegers 2001, p. 281.↩
13. Paul Gauguin, Glazed ceramic cup with handle in form of a self-portrait, ca. 1 Feb.1889 [B 48, G 65]; see Svenaeus ib., p.25, Druick/ Zegers 2001, p. 267, Kaufmann/Wildegans 2008, p. 333-334.↩
14. Gauguin, Sunflowers on an armchair, 1901 [W 603], see also [W 604], [W 605], and [W 606]↩
15. VvG to Paul Gauguin, 21 January 1889; Letters no. 739, see there also annotation [3] in vol.4, p.394↩
a) The Letters of Paul Gauguin to Georges Daniel de Monfreid, trans. by Ruth Pielkovo, New York 1922, no. 35, October 1898, p. 107 ↩
b) Ibid., no. 41, April 1899, p. 117f. ↩
c) Vincent to Theo van Gogh, Arles, 22 January 1889, letter 741, in: Leo Jansen, Hans Luijten, Nienke Bakker (eds.) (2009), Vincent van Gogh – The Letters. Version: December 2010. Amsterdam & The Hague: Van Gogh Museum & Huygens ING. Cited here from http://vangoghletters.org/vg/letters/let741/letter.html ↩
d) Paul Gauguin, Sunflowers on an Armchair, 1901, oil on canvas, 73 x 92 cm, The State Hermitage Museum, St. Petersburg, Cat. 144 ↩
e) In the Judeo-Christian tradition, the All-seeing Eye is the eye of God, which beholds good and evil. The open eye appeals to the conscience ↩
f) In his 1888 Self-Portrait with Portrait of Émile Bernard (Les Misérables), for example, which he presented to Vincent van Gogh, Paul Gauguin portrays himself in the role of Jean Valjean, the protagonist of Victor Hugo's Les Misérables. ↩
g) "L'oeil était dans la tombe et regardait Caïn." From Victor Hugo, La Conscience, in La Légende des Siècles, Paris 1859 ↩