XV. Welche Bedeutung hat dieses biografische Detail für die Kunstgeschichte?

 

Es wird argumentiert, für die Kunstgeschichte spiele es keine Rolle, ob van Gogh sich das Ohr nun selbst abgeschnitten hat oder ob Gauguin der Täter war. Wir sind anderer Meinung, hauptsächlich aus folgenden drei Gründen:

  1. Für kaum einen Künstler war das persönliche Leben je so eng mit seiner Existenz als Künstler verknüpft wie für Vincent van Gogh. Unfähig, einen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft zu finden, und nachdem er mehrmals in verschiedenen Berufen gescheitert war, war van Gogh ein „existenzieller Künstler“ geworden, der allein für die Kunst und durch die Kunst lebte. In seiner umfangreichen Korrespondenz hat er dokumentiert, wie intensiv jeder äußere Einfluss, jeder Eindruck, jede Erfahrung in seinem Leben sich in seiner Kunst widerspiegelt. Es ist nicht verwunderlich, dass das besondere internationale Interesse an ihm als Künstler vor allem durch die Veröffentlichung seiner Briefe durch Johanna van Gogh-Bonger im Jahre 1914 ausgelöst wurde. Daher müssen wir auch Vincents Leben und seine Kunst nach dem Vorfall vom 23. Dezember 1888 im Lichte dieses wichtigen „biografischen Details“ neu betrachten. Nämlich unter dem Aspekt, dass Gauguin ihm das Ohr abgeschlagen hat, und im Hinblick auf die dramatischen Folgen, die dieses Ereignis für ihn hatte.

  2. Wie wir oben bereits aufgezeigt haben, müssen etliche Kunstwerke van Goghs und Gauguins, die nach diesem entscheidenden Ereignis entstanden sind, im Lichte von Gauguins Täterschaft neu interpretiert werden. Dies gilt sicherlich für van Goghs „Selbstporträts mit verbundenem Ohr“ (F 527 / JH 1657 und F 529 / JH 1658), für sein Porträt der Madame Roulin als „Berceuse“, mit dem nachträglich hinzugefügten Seil (F 508 / JH 1892) und den späteren Porträts der Madame Ginoux (nach der Vorlage von Gaguins Zeichnung) (F 540 / JH 1892 und F 543 / JH 1895). Dasselbe gilt für zahlreiche Arbeiten Gauguins, zum Beispiel für seine Papiercollage „Ictus“ (Januar 1889) und für die Keramikarbeiten Anfang 1889 (siehe oben bei Frage 5), seinen „Christus im Olivenhain“ (Juni 1889, W 326), seinen „Gelben Christus“ (Sep. 1889, W 327), und besonders für seine Sonnenblumenbilder von 1901 (W 603, W 604, W 606), die für uns der Auslöser waren, die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zwischen Vincent van Gogh und Paul Gauguin in Arles 1888 noch einmal gründlich zu untersuchen.

  3. Die Legende vom armen, unglücklichen Künstler, der sich in einem unerklärlichen Anfall von Wahnsinn selbst das Ohr mit einem Rasiermesser abschnitt, wurde fester Bestandteil eines weit verbreiteten populären Mythos, der seit Generationen überliefert wurde. Dieser gab die Projektionsfläche für die verschiedensten Spekulationen. Er hat die populäre Vorstellung vom Zusammenhang zwischen „Genie und Wahnsinn“ befördert. Und er wurde zur ökonomischen Grundlage eines weltweiten Geschäfts, eines Kults, einer Erinnerungsindustrie in den Händen des Van-Gogh-Museums in Amsterdam. In Wahrheit sind die Tatsachen noch spektakulärer. Es ist an der Zeit, dieses Meinungsmonopol in Frage zu stellen und in Bezug auf Vincent van Gogh weiter nach diesen Tatsachen zu forschen.

 

  

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