Buchcover

DR. RITA WILDEGANS
Van Goghs Ohr
Ein Corpusculum als Corpus Delicti

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BREDEKAMP, HORST. Curiosa Poliphili. Festgabe für Horst Bredekamp.
Hrsg. von Nicole Hegener, Claudia Lichte & Bettina Marten.
Leipzig 2007.
256 S. mit 100 Abb., Ppbd.

Die Festschrift zum 60. Geburtstag vereint 30 Beiträge von ehemaligen Schülern
des Kunsthistorikers, Professor für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität
zu Berlin.

 

In der kunsthistorischen Forschung ist die Frage, ob ein Ohr oder nur ein Ohrläppchen das Ergebnis der Selbstverstümmelung Vincent van Goghs gewesen ist, von marginaler Bedeutung. Widersprüchlich und recht sorglos wird daher dieses Thema behandelt. Die Schilderungen dessen, wo und was am 23. Dezember 1888 in Arles abgeschnitten wurde, wechseln vom linken zum rechten Ohr, vom ganzen Ohr über den Teil eines Ohrs zum Ohrläppchen und, als bisher äußerster Grad der Spekulation, zum Teil eines Läppchens.1 Selbst eine mit einem internationalen Preis gewürdigte Publikation spielt ohne eindeutige Festlegung mit verschiedenen Varianten des bedauernswerten Vorfalls, was nur als Beweis für dessen untergeordnete Bedeutung in der Wissenschaft gewertet werden kann.2 Nun ist bei der Beschreibung von Bildnissen ein Ohr nicht immer und grundsätzlich zu vernachlässigen. Desgleichen müßte gerechterweise auch für die näheren Umstände eines abhanden gekommenen Hörorgans postuliert werden, zumal es sich dabei um ein nicht folgenloses Ereignis im Leben eines relativ bekannten und beliebten Künstlers handelt. Trotzdem scheint die kritische Untersuchung der damit verbundenen Fakten kein kunsthistorisches Anliegen zu sein und wird seit über 100 Jahren entweder peinlichst ausgeklammert oder als nebensächlich abgetan. Gleichwohl kann die Frage, ob es sich bei dem berichteten autoaggressiven Akt des Künstlers um das Abtrennen eines Ohrs oder eines Ohrläppchens handelte, Grundlage für weitere Th esen und damit sehr wohl von Bedeutung sein.3

Die Verwirrungen und Ungenauigkeiten begannen 1914 mit Johanna van Gogh-Bongers dreibändiger Edition der Briefe Vincent van Goghs an seinen Bruder Theo.4 Der Publikation ging eine ausführliche Lebensbeschreibung der Familie van Gogh und insbesondere der tragischen Lebensumstände Vincents als Einführung voraus. Sie ist in wesentlichen Teilen unzuverlässig und hält wissenschaftlichen Kriterien nicht überall stand, bildet jedoch bis heute die Grundlage für viele weitere Biographen van Goghs. Diesen kann der Vorwurf einer gewissen kollektiven Blindheit nicht erspart bleiben, wird doch in ihnen der Wahrheitsgehalt der biographischen Skizze dieses Familienmitglieds nicht angezweifelt und als authentisch betrachtet. Nachweislich hat Johanna van Gogh-Bonger in ihrem ehrenhaften Bemühen, die Familiengeschichte zu glätten und zu beschönigen, der Versuchung nicht widerstehen können, einige Ereignisse zu ignorieren, umzudeuten oder zu verharmlosen.5 Bezogen auf die Ohrepisode heißt es in ihrer Darstellung unter anderem: »Vincent hatte sich, in einem Augenblicke höchster Erregung, – »un acceès de fièvre chaud« nennt er es später selbst – ein Stück eines Ohres abgeschnitten und es einem Mädchen in einem Bordell gegeben.«6 Dieser Satz blieb zunächst unwidersprochen.

In einer weiteren Van-Gogh-Biographie von 1923 legt der Autor Gustave Coquiot dem Künstler Paul Signac, der 34 Jahre zuvor Vincent van Gogh in Arles besucht hatte, ebenfalls die Aussage in den Mund, daß es sich bei dem Unfall am 23. Dezember 1888 um ein Ohrläppchen gehandelt habe, und bezieht sich dabei auf Johanna van Gogh-Bonger als Kronzeugin: »Cependant Paul Signac bravement vint le voir. Voici le récit de cette visite: ›J’ai revu Vincent, nous a-t-il dit, la dernière fois à Arles, au printemps de 1889. Il était déjà à l’hospice de cette ville. Quelques jours auparavant il s’était coupé le lobe de l’oreille (et non l’oreille) dans les circonstances que vous savez. (Mme. J. van Gogh-Bonger affirme, elle aussi, que le lobe seul de l’oreille fut coupé). Mais le jour de ma visite il était plein de raison et l’interne me permit de sortir avec lui. Il avait le fameux bandeau et la casquette de fourrure.‹«7 Nachweisbar hat der Besuch von Paul Signac am 23. März 1889 in Arles stattgefunden; Coquiot läßt ihn jedoch sagen, daß sich das Drama mit dem Ohr einige Tage vorher ereignet habe. In Wirklichkeit waren drei Monate seit dem bedauernswerten Ereignis vergangen. Die irrtümliche Datierung mag für sich genommen noch eine unbedeutende Nachlässigkeit des Autors Coquiot sein, die sich daran anschließende Aussage weniger. Wenn Vincent van Gogh zum Zeitpunkt des Signac-Besuchs noch seinen berühmten Verband und die Pelzkappe getragen haben soll, drängt sich die Frage auf, wie Signac überhaupt beurteilen konnte, was sich unter dem Verband verbarg. Im übrigen ist bemerkenswert, daß Coquiot, wenn er nicht Signac zitiert, mehrmals in seinen Aufzeichnungen von »ce drame de l’oreille coupée« berichtet, das heißt vom Drama des abgeschnittenen Ohrs und nicht des abgeschnittenen Ohrläppchens.8

Obwohl die biographischen Schilderungen von Johanna van Gogh-Bonger und Gustave Coquiot in großen Teilen anekdotischen Charakter haben, ergänzte dieses Quellenmaterial den gesamten Komplex der erhalten gebliebenen Korrespondenzen Vincent van Goghs und wurde bis heute zum Glaubensbekenntnis unzähliger Van-Gogh-Biographen. Eine 1928 publizierte Untersuchung von Victor Doiteau und Edgar Leroy trug keineswegs zur Klärung des Problems bei.9 In dieser Publikation erschienen sämtliche handschriftlichen Eintragungen der den Fall Vincent van Gogh behandelnden Ärzte. Diese dokumentierten sehr sorgfältig Anamnese, wöchentliche und monatliche Beobachtungsprotokolle bis hin zur Entlassungsurkunde Vincent van Goghs. Sie sind eindeutig in der Aussage. Unter anderem diagnostizieren alle drei leitenden Mediziner, daß sich van Gogh während eines heftigen Anfalls das linke Ohr abgeschnitten habe. Der Publikation, die durch die beigefügten Faksimiles in der Aussage, daß es sich bei der Verletzung um das ganze Ohr gehandelt hat, so eindeutig ist, geht ein Vorwort voraus, das einen von dem Autorenteam warmherzig ausgedrückten Dank an Johanna van Gogh-Bonger für deren kooperative Mitarbeit enthält. Folgerichtig wird daher auch in der Beschreibung dessen, was am 23. Dezember geschah, die eindeutige Aussage der drei Ärzte von den Autoren Doiteau und Leroy eigenmächtig dahingehend korrigiert, daß es nur ein Ohrläppchen gewesen sei: »Voici ce qui s’était passé. [sic!] Van Gogh rentre à la maison et immédiatement se coupa l’oreille juste au ras de la tête. (Vincent se mutila moins grièvement que le dit Gauguin, il s’entailla seulement le lobute de l’oreille gauche). Il dut mettre un certain temps à arreter le sang […].«10 Woher die beiden Autoren, die ebenfalls ein medizinisches Studium absolviert hatten, diese Gewißheit nehmen, wird nicht näher erläutert. Der Verdacht drängt sich auf, daß der folgenschwere parenthetische Satz nach Rücksprache mit Johanna van Gogh-Bonger eingefügt wurde.

Der Version Johannas folgt auch Ronald Pickvance in einer umfassenden Untersuchung von Vincents Tagen in Arles. In Anlehnung an einen Zeitungsartikel aus dem »Forum Républicain« vom 30. Dezember 1888 liest sich die Beschreibung der Unglücksnacht bei Ronald Pickvance wie folgt: »›After a violent quarrel with Gauguin (who had decided to spend the night in a hotel) van Gogh appeared at 11.30 PM at the maison de tolerance, no. 1, asked for a girl called Rachel and handed her his ear with this words: ›Keep this object carefully.‹ Then he disappeared.‹ (Le Forum Républicain, 30 Decembre 1888; in fact, van Gogh did not cut off the whole of his ear, but only the lower part). After presenting it to Rachel, he returned to his house and went to bed.«11 Der Autor läßt off en, welche Quelle ihn veranlaßt hat, den Bericht der Zeitung »Forum Républicain«, der sich off enbar auf die Aussage der Prostituierten beruft, dahingehend zu ändern, daß es sich in fact nur um ein Ohrläppchen gehandelt habe.

Die Darstellung eines läppischen Corpusculums galt spätestens von da an als gültige Interpretation und wurde kaum je hinterfragt, obwohl es eindeutige anderslautende Aussagen von Zeitzeugen gibt. Der scheinbar gravierende Einwand, Vincent wäre verblutet, wenn dem so wäre, ist nicht schlüssig, da er in der Tat nur mit knapper Not davor bewahrt wurde. Vincent van Gogh selbst hat eine genaue Beschreibung seiner Ohrverletzung vermieden. Zwei Wochen nach dem Vorfall schreibt er an seinen Bruder: »Ich hoffe, es war bei mir nur ein einfacher Künstlerrappel, und danach hohes Fieber infolge des sehr beträchtlichen Blutverlustes, da eine Arterie durchschnitten war […] das Blut ersetzt sich von Tag zu Tag, und so wird mir auch im Kopf von Tag zu Tag wohler.«12 Vor einem Spiegel fertigt er zwei Selbstportraits mit einem voluminös verbundenen Ohr an und bezieht sich in seiner umfangreichen Korrespondenz an Theo van Gogh nur an einer Stelle, in einem Brief vom 28. Januar 1889, etwas scham- und bemüht humorvoll auf sein fehlendes Ohr: »Ich glaube an die Kunst, die es in den Tropen zu schaffen gilt […] aber ich selber bin zu alt und zu sehr von Pappe (besonders wenn ich mir ein Ohr aus Pappmachée machen ließe) um hinzufahren.«13 Bedeutung erhält dieser ansonsten kaum zitierwürdige Satz insofern, als er dokumentiert, daß ganz offensichtlich mehr als nur ein fehlendes Läppchen den Patienten über ein Pappohr nachdenken lässt. Paul Gauguin als wichtigster Augenzeuge berichtet unmittelbar nach seiner überstürzten Abreise aus Arles an Emile Bernard: »Vincent était rentré après mon depart, avait pris le rasoir et s’etait tranché net l’oreille.«14

Er bleibt auch in den folgenden Jahren bei dieser Aussage und wiederholt in seiner Autobiographie von 1903 unmittelbar vor seinem Tod zum letzten Mal: »Il coupa l’oreille au ras de la tête.«15 Emile Bernard, der spätestens bei seiner Teilnahme an Vincent van Goghs Begräbnis am 30. Juli 1890 diese Aussage hätte überprüfen können, bestätigt 1911: »In einem unbegreiflichen Anfall hatte sich Vincent ein Ohr abgeschnitten und es einer Freundin in einem Bordell überbracht. […] Sie brachen die Tür auf am nächsten Morgen. Seine Wunde hatte so stark geblutet, daß er das Bewußtsein verloren hatte.«16 Der von den Prostituierten in Arles noch in der Unglücksnacht zu Hilfe geholte Wachtmeister Alphonse Robert macht folgende Aussage: »Damals, im Jahr 1888, war ich Sicherheitsbeamter. An dem betreffenden Tag hatte ich Dienst im Dirnenviertel. Als ich am Bordell Nr. 1 vorbeikam, […] der Name der Prostituierten ist mir entfallen […] hat diese letztere mir in Gegenwart der Chefin eine Zeitung übergeben, in die das Ohr eingeschlagen war […] ich vergewissere mich, was in dem Paket ist und habe festgestellt, daß es ein ganzes Ohr enthielt.«17 Eine Pressenotiz aus Arles in der Wochenzeitung »Forum Républicain« vom 30. Dezember 1888 stützt sich auf die Aussagen der Prostituierten und der Polizei: »Am vorigen Sonntag, abends um 11.30 Uhr, erschien ein gewisser Vincent Vangogh [sic!], Maler, aus Holland gebürtig, im Freudenhaus Nr. 1, verlangte nach einer gewissen Rachel und hat ihr sein Ohr gegeben indem er sagte: ›Heben Sie diesen Gegenstand sorgfältig auf.‹ Dann verschwand er. In Kenntnis gesetzt von diesem Vorgang, der nur die Tat eines armen Geisteskranken sein konnte, begab sich die Polizei am nächsten Morgen ins Haus des Vorgenannten und fand ihn im Bett liegend vor; er gab kaum noch ein Lebenszeichen von sich. Der Unglückliche wurde als dringender Fall dem Krankenhaus überwiesen.«18 Vincent van Gogh besuchte die Prostituierte nach seiner vorläufigen Genesung im darauff olgenden Monat und entschuldigte sich für sein Präsent und den damit ausgelösten Schrecken.

Aufgrund einer Petition von Vincents Nachbarn untersuchte der Oberpolizeikommissar von Arles, Joseph d’Ornano, der schon nach der Unglücksnacht vom 23. Dezember 1888 an das Bett des verblutenden Vincent geholt worden war, in einem Anhörungsprozeß den Fall noch einmal und formulierte am 27. Februar 1889 in einem Abschlußbericht: »Alle Nachbarn sind erschrocken und das mit Recht, denn vor einigen Wochen hat der betreffende Geisteskranke in einem Anfall von Wahnsinn sich ein Ohr abgeschnitten, ein Anfall, der sich wiederholen und für eine Person seiner Umgebung unheilvoll sein könnte.«19 Das abgeschnittene Ohr und nicht ein fehlendes Läppchen war demzufolge die Ursache der panischen Ängste der Nachbarn. Der Petition wurde stattgegeben; Vincent suchte ein Asyl für geistig Kranke in Saint-Rémy auf. Dr. Urpar, der Direktor des Krankenhauses in Arles, schreibt ein Überweisungsformular: »Je soussigné, médecin en chef de l’hopital certifi e, que le nommé Van Gogh (Vincent) agé de 35 ans, a été atteint il y a six mois de manie aigue avec délire généralisé. A cette époque il s’est coupé l’oreille.«20 Die Aussage ist diagnostisch wenig präzise, das Ohr betreffend jedoch eindeutig. Dr. Rey, der behandelnde Stationsarzt in Arles, wird später den Eingangsbefund bei einer Befragung durch den Kunsthistoriker Benno Stokvis bestätigen: »Nach der Nacht, in der Vincent sich das Ohr abgeschnitten hatte, kam Gauguin zu Dr. Rey, um seine Hilfe für Vincent in Anspruch zu nehmen und seine Aufnahme ins Krankenhaus zu veranlassen. […] Vincent wurde ins Hospital geschafft, es zeigte sich, daß er einen starken Blutverlust erlitten hatte. Die Frau, der er das Ohr überbracht hatte, übergab es einige Tage später dem Dr. Rey, der es mehrere Jahre in Alkohol konserviert hat. Bei einem Umzug nach Paris ist es ihm abhanden gekommen.«21

Die erhalten gebliebenen Krankenakten der Anstalt Saint-Paul-de-Mausole in Saint-Rémy, die für mehr als ein Jahr Vincent van Goghs Zufluchtsort war, können mit großer Eindeutigkeit den Mythos vom Läppchen ebenfalls widerlegen. Dr. Peyron, zuständiger ärztlicher Direktor in Saint-Rémy, protokollierte 24 Stunden nach Vincent van Goghs Ankunft : »Je soussigné, docteur en Médecine, directeur de la Maison de Santé de Saint Rémy, certifie que le nommé Van Gogh, (Vincent) agé de trente-six ans, natif de Hollande, et actuellement domicilié à Arles, (B.d.R.) entraitement à l’hopital de cette ville, a été atteint de manie aigue, avec hallucinations de la vue et de l’ouie, qui l’ont porté à se mutiler en se coupant l’oreille.«22 Dr. Peyron wiederholte die Aussage, daß sich Vincent van Gogh während eines Anfalls ein Ohr abgeschnitten habe, am 25. Mai in einem »Zwei-Wochen-Protokoll«: »Ce malade, arreter d’un hopital d’Arles où il était eu traitement depuis plusieurs mois. Il y était entré à la suite d’un accès de manie aigue qui était survenu brusquement accompagné d’hallucinations de la vue et de l’ouïe e qui le terrifiaient. Pendant cet accès il se coupa l’oreille gauche, mais il ne conserve de tout cela qu’un souvenir très vague et ne peut s’en rendre compte.«23

Auch in Auvers finden sich Zeitzeugen, deren schlichte Aussagen der Wahrheitsfi ndung dienen können. Adeline Ravoux, die Tochter des Gastwirtes, erinnert sich: »Ich war noch sehr jung, als Herr Vincent zu uns kam. Er ging mit etwas seitlich geneigtem Kopf, nach der Seite hin, wo ihm das Ohr fehlte, das glatt abgeschnitten war.«24 Tony Hirschig, ein Mitbewohner Vincent van Goghs im Gasthaus Ravoux, sagte aus: »Ich sehe ihn noch immer vor mir mit seinem abgeschnittenen Ohr […].«25 Paul Gachet alias Paul van Ryssel, Arzt und Amateurmaler, behandelte Vincent van Gogh in den wenigen in Auvers verbrachten Wochen vom 20. Mai 1890 bis zu seinem Tod am 29. Juli 1890. Außer einer Kohlezeichnung von Vincent van Gogh auf seinem Totenbett, die ihm sowohl für eine im gleichen Jahr angefertigte Radierung als auch für ein Ölbild als Vorlage diente, sind keine weiteren Dokumente des Arztes, Vincent van Goghs Krankheit betreff end, erhalten. Die bildlichen Darstellungen des Hobbykünstlers allerdings geben andeutungsweise Aufschluß über den Grad der Ohrverletzung. Wie eine Photographie aus Vincents Jugendtagen und seine späteren Selbstportraits erkennen lassen, besaß er große, rund geschwungene und voluminöse Ohrmuscheln. Gachets Radierung gibt an der Stelle, wo sich einst das linke Ohr befand, ein kleines spitzes Dreieck der inneren Aurikula ohne Ohrmuschel wieder, auf dem Ölbild ist auch diese Andeutung verschwunden. Nur ein braunroter Schatten weist auf die vernarbte Wunde hin.

Es bleibt festzustellen, daß außer der Schwägerin Johanna van Gogh-Bonger, die familiäre Motive hatte, die Verletzung zu verharmlosen, kein Augenzeuge von einem abgetrennten Ohrläppchen berichtete. Übereinstimmend in der Aussage, daß es sich bei der bedauernswerten »Selbstverstümmelung« des Künstlers um das ganze (linke) Ohr gehandelt hat, sind dagegen die voneinander unabhängigen Urteile des Kronzeugen Paul Gauguin, der beschenkten Prostituierten, des in das Dirnenviertel eilenden Gendarms, des ermittelnden Polizeikommissars und der vor Ort recherchierenden Presse. Die handschriftlich vorliegenden eindeutig formulierten ärztlichen Bulletins von drei Medizinern schließlich, die sowohl in Arles als auch in Saint-Rémy Vincent van Gogh über einen langen Zeitraum beobachtet und behandelt haben, dürften endgültig beweisen, daß dem Künstler ein Ohr und nicht nur ein Ohrläppchen abhanden kam.

 

 

Anmerkungen

1 Koldehoff, Stefan: Van Gogh – Mythos und Wirklichkeit, Köln 2003, S. 206.

2 Dorn, Roland: Décoration, Diss Univ. Mainz, Hildesheim 1990 (Studien zur Kunstgeschichte 45): »Van Gogh wurde, nachdem er sich sein Ohr abgeschnitten hatte, bewußtlos im Gelben Haus aufgefunden […]«, siehe dort S. 22; »[…] verlor Van Gogh die Kontrolle über sich, schnitt sich einen Teil des Ohrs ab, den er gegen 23.30 einer Prostituierten überbrachte. Am nächsten Morgen wird er bewusstlos im Gelben Haus aufgefunden und ins Arleser Hospital eingeliefert. Wie es zu diesem Vorfall kam, ist nicht genau zu rekonstruieren […]«, dort S. 527.

3 Die Untersuchung ist Teil der Recherche zu einer in Vorbereitung befi ndlichen Buchpublikation über die Künstlergemeinschaft von Vincent van Gogh und Paul Gauguin in Arles.

4 Van Gogh, Vincent: Briieven aan zijn broeder, hg. von Jo van Gogh-Bonger, 3 Bde., Amsterdam 1914.

5 Hulsker, Jan: Vincent and Theo van Gogh. A Dual Biographie, Ann Arbour/Mich. 1990, S. XIV, S. 5, Anm. 4, S. 125, 132.

6 Van Gogh, Vincent: Briefe an seinen Bruder, hg. von Johanna van Gogh-Bonger, Berlin 21928, Bd. 1, Vorwort S. XLII.

7 Coquiot, Gustave: Vincent van Gogh, Paris 1923, S. 194: »Paul Signac stattete ihm jedoch einen Besuch ab. Hier der Bericht seiner Visite: ›Ich habe Vincent, so erzählte er uns, zum letzten Mal in Arles im Frühjahr 1889 wiedergesehen. Er war schon im Krankenhaus dieser Stadt. Einige Tage vorher hatte er sich das Ohrläppchen abgeschnitten (und nicht das Ohr) unter den Begleitumständen, die Sie kennen. (Madame J. Van Gogh-Bonger bestätigt, daß nur das Ohrläppchen abgeschnitten wurde). Aber am Tag meines Besuchs war er völlig normal und der Arzt erlaubte mir, mit ihm auszugehen. Er trug den berühmten Verband und die Pelzkappe.‹« (Übersetzung der Verfasserin).

8 Coquiot 1923 (wie Anm. 7), S. 191–192.

9 Doiteau, Victor/Leroy, Edgard: La Folie de Vincent van Gogh, Paris 1928.

10 Doiteau 1928 (wie Anm. 9), S. 43: »Folgendes war passiert. Van Gogh ging zurück nach Hause und schnitt sich unmittelbar danach das Ohr direkt am Kopf ab. (Vincent verletzte sich weniger schlimm, als Gauguin sagt, er schnitt sich nur das linke Ohrläppchen ab.) Er muß eine gewisse Zeit gebraucht haben, um das Blut zu stillen […].« (Übersetzung der Verfasserin).

11 Pickvance, Ronald: Van Gogh in Arles, Ausst. Kat. Metropolitan Museum of Art, New York 1984, S. 195.

12 Erpel, Fritz (Hg): Vincent van Gogh. Sämtliche Briefe, Bornheim-Merten 1985, 6 Bde., Dok. 569.

13 Erpel 1985 (wie Anm. 12), Dok. 574.

14 Manuscrit du XIX Siècle, Nouveau Drouot, Auktion Paris 29.3.1985, Partie 48, Brief von Emile Bernard an Albert Aurier, Poststempel vom 1.1.1889: »Vincent war heimgekehrt, nachdem ich fortgegangen war, hatte ein Rasiermesser genommen und sich das Ohr glatt abgeschnitten« (Übersetzung der Verfasserin).

15 Gauguin, Paul: Vorher und Nachher, übersetzt 1920 von Erik-Ernst Schwabach, Köln 1998, S. 29.

16 Erpel 1985 (wie Anm. 12), Bd. 6, S. 155.

17 Erpel 1985 (wie Anm. 12), S. 30.

18 Le Forum Républicain, 30.12.1888, S. 3, Bibliothèque Municipale d’Arles, Espace van Gogh Médiathèque.

19 Van Gogh à Arles, Ausst. Kat. Fondation Vincent van Gogh-Arles, 2003, Faksimile S. 63–65 (Procès-Verbal).

20 Doiteau/Leroy 1928 (wie Anm. 9), S. 32, Sp. 3, Faksimile: »Ich bestätige als medizinischer Leiter des Hospitals, daß besagter Van Gogh, (Vincent), 35 Jahre alt, vor 6 Monaten von einer akuten Manie mit allgemeinem Delirium ergriffen wurde. Damals hat er sich das Ohr abgeschnitten.« (Übersetzung der Verfasserin).

21 Stokvis, Benno: Vincent van Gogh in Arles, Kunst und Künstler, Bd. 27, September 1929, S. 470–474.

22 Doiteau/Leroy 1928 (wie Anm. 9), S. 32, Sp. 4, Faksimile, vgl. Doiteau/Leroy 1928 (wie Anm. 9), S. 55.

23 Doiteau/Leroy 1928 (wie Anm. 9), S. 32, Sp. 6, Faksimile, vgl. S. 56: »Dieser Kranke ist von einem Hospital in Arles, wo er während mehrerer Monate behandelt wurde, krank geschrieben worden. Er ist dort infolge eines heft igen Anfalls, der plötzlich auftrat und der begleitet war von Halluzinationen des Sehsinns und des Gehörs, die ihn furchtbar ängstigten, eingeliefert worden. Während dieses Anfalls schnitt er sich das linke Ohr ab, aber er erinnert sich an diesen Vorfall nur sehr vage und kann ihn sich nichterklären.« (Übersetzung der Verfasserin).

24 Erpel 1985 (wie Anm. 12), Bd. 6, S. 309. 25 Erpel 1985(wie Anm. 12), Bd. 6, S.308.